Geschichtskurs 11 spricht mit einem Zeitzeugen über die DDR

„Mephisto“ im Stasi-Gefängnis

Der Zeitzeuge Michael Verleih (geb. 1951 in Berlin) besuchte den Geschichtsunterricht der 11. Klasse, Vorleistungskurs Geschichte,  online. Wegen „staatsfeindlicher Hetze“ wurde er in der DDR im Oktober 1983 verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Wie er das Leben in der DDR wahrnahm und in die BRD kam, war Thema in dem mit der Klasse geführten Videogespräch .

Michael Verleih wuchs mit einem Vater auf, der Widerstandskämpfer des Nationalsozialismus war. Mehrfach im NS u.a. durch die Gestapo verfolgt, verstarb er früh Ende der 50er und hinterließ seinem Sohn eine „schöne Bibliothek“, mit der dieser sich in seiner Freizeit beschäftigte. Er las Werke, die in der DDR nicht zu erwerben waren und verstand daher, dass die DDR nicht das „höchste“ gewesen sei, sondern eine historische Episode ohne Zukunft. Seinen Vater ertappte er noch den Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) hören und er selber setzte dies fort, obwohl der Empfang westlichen Radios verboten war. Noch heute pflichtet er den Worten seines Vaters bei, dass man sich beide Seiten anhören müsse, um urteilen zu können. 

 

Bezüglich seiner schulischen Laufbahn bekannte Verleih, nicht in die FDJ eingetreten zu sein. Er bekam aufgrund seines Vaters, als Sohn eines Widerstandskämpfers, einen Platz als einer von wenigen seiner ehemaligen Mitschüler in der sogenannten EOS (Erweiterte Oberschule). Die Zulassung zum Abitur war einer starken politischen Selektion unterworfen. 

In den ostdeutschen Schulen gab es Wandzeitungen, zu denen auch Schüler gelegentlich  Artikel  beitragen konnten. Michael Verleih und seine Freunde schrieben einen Essay, der sich auf Lenins Schriften bezog und dabei auf die Frisuren der Schüler ironisch anspielte, deren Länge die Schulleitung zu kürzen befohlen hatte.

Lenin hatte in seiner Schrift über den „Imperialismus als das höchste Stadium des Kapitalismus“  insgesamt fünf Stadien vor der befreienden kommunistischen Revolution benannt. Die Schüler machten sich darüber lustig und ergänzten ein fiktives sechstes Stadium: „lange Haare“, und nannten als Beispiel die Frisur von Karl Marx. Der Schuldirektor hielt daraufhin eine Rede zur kollektiven Verantwortung, verwarnte Michael Verleih, der kurz vor dem Schulverweis stand, und seine Freunde waren aufgefordert, sich von ihm zu distanzieren. 

Der Grund, warum er bereits als Schüler Kritik am System der DDR ausübte, waren für ihn unter anderem der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die damalige CSSR (Tschecheslowakei) und die Verabschiedung der „sozialistischen“ Verfassung der DDR im Jahre 1968. 

Seine kritische Haltung bewahrte er sich auch in Briefen an westdeutsche Politiker. In ihnen äußerte er sich später, schon als Physiker mitten im Berufsleben stehend, zur Tagespolitik der DDR und zu einer möglichen Wiedervereinigung: „Die östlichen Machthaber stehen bald unter dem Zwang, ohne Inanspruchnahme offener Gewalt, ihren letzten Tag abzählen zu können.“ Die Stasi beobachtete ihn und verpasste ihm den Decknamen „Mephisto“, wie er später in den Dokumenten des sogenannten Stasi-Unterlagen-Archivs herausfand.

Das Ministerium für Staatssicherheit fing seine Briefe ab und verhaftete ihn schließlich im Oktober 1983. Ohne ihm eine Anklage- oder Verurteilungsschrift auszuhändigen wurde er verurteilt. In den Gefängnissen der DDR wurden politische Gefangene gezielt von anderen politischen Gefangenen isoliert und mussten mit Kriminellen ihre Haft unter menschenunwürdigen Bedingungen verbüßen. Etwa nach der Hälfte seiner angedachten vierjährigen Haft kaufte die Bundesrepublik Deutschland Michael Verleih frei und er kam nach West-Berlin, wo er von Amnesty International empfangen wurde. Jetzt war er in Freiheit und konnte sagen, was er dachte.

Weitere Informationen: 

https://www.zeitzeugen-portal.de/personen/zeitzeuge/michael_verleih/videos/j8HIgu16SO4

Dr. Christian Mehr